Erasmus’ Weisheiten

Von Ursula Armstrong (Februar 2004)

Erasmus war alt. Er hörte und sah nicht mehr gut. Nun bekam er das Gnadenbrot. Er hatte eine schöne Wiese voll leckerer Kräuter ganz für sich allein mit einem Unterstand, wo er schlafen konnte oder Schutz suchen vor Regen und Sonne. Damit war er sehr zufrieden. Denn was konnte es für einen alten Esel Schöneres geben. Und so lebte Erasmus denn glücklich auf seiner Wiese. Den ganzen Tag murmelte er vor sich hin und unterhielt sich mit sich selbst über Gott und die Welt. Was auch immer das für eine Welt war.

Eines Tages brachte der Bauer ein paar Schafe auf Erasmus’ Wiese. Die begannen denn auch sofort, die leckeren Wiesenkräuter zu weiden. Nur eines schaute ehrfürchtig zu dem alten Esel hin und sagte schüchtern:

„Guten Morgen, Erasmus.“ „Ach, lass den doch. Der ist vollkommen gaga“, meinte schmatzend ein anderes .„Ist gar nicht wahr!“, rief das erste Schaf empört. „Er ist nur sehr alt. Und Alte sind weise, das weiß doch jedes Lamm!“ „Weise? Ach, komm! Gaga, glaub mir.“ „Nein, bestimmt, er ist weise. Schau doch nur, wie er in die Ferne schau“, sagte das erste Schaf ehrfürchtig. „Er ist bestimmt tief in Gedanken. Von ihm kann man sicher viel lernen.“Das zweite Schaf kicherte nur blökend. „Ich werde es dir beweisen“, sagte das erste Schaf  aber aufgebracht. „Komm, wir stellen ihm eine Frage. Dann wirst du schon sehen, wie weise er ist.“ „Au ja, das ist eine lustige Idee. Was stellen wir ihm denn für eine Frage?“ „Irgend etwas Gescheites. Philosophisches. Über das Leben oder so .“Das zweite Schafe kicherte wieder und sagte ganz laut: „Kommt alle mit, Iris hier will sich blamieren!“

 

 

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Die Schafe schauten auf und grinsten. Ja ja, so war Iris. Die blamierte sich immer. Und das war immer unterhaltsam. So folgten alle Schafe Iris, die ein bisschen rot geworden war, hinüber zu dem alten Esel.
„Guten Morgen, Erasmus“, grüßte Iris noch einmal ehrfürchtig.
Der Esel hob kurz den Kopf und schaute mit seinen halbblinden Augen vage in Iris‘ Richtung. Dann fraß er weiter.„Entschuldige, dass ich dich störe. Ein Weiser wie du ist sicher immer in tiefen Gedanken. Aber könntest du mir eine Frage beantworten?
“Erasmus murmelte etwas vor sich hin, was zwar nicht zu verstehen war, was Iris aber als Zustimmung auffasste.„Jaaa“, begann sie zögernd. Was für eine gescheite Frage sollte sie nur stellen? Schließlich ging es hier auch um sie und ihren Ruf. Es musste schon etwas sehr Philosophisches sein. „Also“, begann sie noch einmal. Und dann wusste sie es: „Wie ist das denn so mit dem Leben?“ Das gefiel ihr, das war etwas Allumfassendes.
Erasmus fraß weiter. Alle Schafe, vor allem Iris, warteten gespannt.
Dann begann der alte Esel zu sprechen: „Disteln. Die sind gut und nahrhaft, aber sie sind stachelig. Man muss mit ihnen umgehen können. Nur nicht zu hastig. Viel Geduld. Und gut kauen. Dann tut einem nichts weh. Aber das wissen nur wenige Geschöpfe.“…Iris schaute sich stolz um. Wenn das nicht weise war! Genauso war das Leben: wie Disteln. „Siehst du, Daisy“, sagte sie ...

(es gäbe natürlich noch viel mehr)